Gruppenarbeit mit suchtmittelabhängigen Wohnungslosen

Wir sind hier, weil es letztlich kein Entrinnen vor uns selbst gibt. Solange der Mensch sich nicht selbst in den Augen und Herzen seiner Mitmenschen begegnet, ist er auf der Flucht. Solange er nicht zulässt, daß seine Mitmenschen an seinem Innersten teilhaben, gibt es für ihn keine Geborgenheit. Solange er sich fürchtet, durchschaut zu werden, kann er weder sich selbst noch andere erkennen – er wird allein sein. Wo können wir schon solch einen Spiegel finden, wenn nicht in unseren Nächsten? Hier in der Gemeinschaft kann sich ein Mensch erst richtig klar über sich werden und sich nicht mehr als den Riesen seiner Träume oder den Zwerg seiner Ängste sehen, sondern als Mensch, der – Teil eines Ganzen – zu ihrem Wohl seinen Beitrag leistet. In solchem Boden können wir Wurzeln schlagen und wachsen; nicht mehr allein – wie im Tod –, sondern lebendig als Mensch unter Menschen. Richard Beauvais Obwohl die Wohnungslosenhilfe und die Suchtkrankenhilfe zum Großteil ein identisches Klientel haben (die Untersuchungen der letzten beiden Jahrzehnte sprechen von rund 70 Prozent), haben sie sich unterschiedlich entwickelt. Während die Wohnungslosenhilfe sich vor allem mit Armut und Verelendungsprozessen auseinandersetzt und eine äußere Hilfe für die Betroffenen anstrebt, hat es in der Suchtkrankenhilfe eine Individualisierung und Therapeutisierung gegeben, die vor allem auf innere Hilfe setzt. So ist es dazu gekommen, daß wir heute eine Wohnungslosenhilfe vorfinden, die den Alkoholismus ihres Klientels oftmals leugnet, und sich mitunter die Erklärungsmuster der Betroffenen

„Das Leben auf der Straße ist ja nur mit 3, 8 Promille im Turm auszuhalten.“

 zu eigen macht. Dabei wird häufig übersehen, daß der Alkohol bereits vor dem Eintritt der Wohnungslosigkeit eine erhebliche Rolle im Leben der Betroffenen (z. B. um die deutlich klaffende Lücke zwischen den Anforderungen der Innen- und der Außenwelt und der eigenen Lebenskompetenz zu füllen) spielte, ja vielfach der Hauptgrund für die Wohnungslosigkeit ist. Auf der anderen Seite ist die Suchtkrankenhilfe heutzutage vorwiegend mittelschichtsorientert. Überspitzt formuliert: Nur wer einen klaren Veränderungswillen möglichst differenziert verbalisieren kann, findet Einlaß in die therapiegeweihten Hallen der Suchtkrankenhilfe. Für alle anderen ist die Schwelle zu hoch. Das hochspezialisierte Angebot der Suchtkrankenhilfe ist in aller Regel nicht kompatibel mit den Kompetenzen eines Wohnungslosen. Er fällt schlicht durch den Rost. Aber auch Wohnungslose sind alkoholkrank, auch sie haben einen Anspruch auf qualifizierte Hilfe. Auf dem Hintergrund dieses Dilemmas versucht das Wohnprojekt Neukölln der Berliner Stadtmission (betreutes Einzelwohnen mit 45 Plätzen), seit November 1997 einen neuen Weg zu gehen. Die Suchtkrankenhilfe wurde in Form eines erfahrenen Suchtberaters in die vertrauten Räume des Projektes geholt. Seine Aufgabe ist es, einmal in der Woche (freitags von 16.00 bis 17.30 Uhr/ohne Pause/ohne rauchen) eine Suchtgruppe mit maximal 14 Bewohnern (die optimale Gruppengröße liegt bei etwa 10 Personen) durchzuführen. Zielstellung ist die Thematisierung der Alkoholabhängigkeit, die Auseinandersetzung damit sowie die Hinführung zur etablierten Suchtkrankenhilfe u. a. durch Angstabbau, Ich-Stärkung und Erweiterung der Lebenskompetenz. Um überhaupt eine sinnvolle innere Arbeit bei den Gruppenteilnehmern in Gang setzen zu können, muß eine wie auch immer geartete Exterritorialität hergestellt werden, wie sie zum Beispiel in einer Selbsthilfegruppe oder Beratungsstelle naturgemäß gegeben ist. Einerseits werden die Bewohner, die von den Mitarbeitern des Projektes als suchtgefährdet oder suchtkrank eingeschätzt werden, zur Teilnahme an der Suchtgruppe verpflichtet. (Eine Nicht-Teilnahme hat Konsequenzen und kann bis zur Entlassung aus dem Wohnprojekt führen.) Andererseits ist die Gruppe selbst so etwas wie ein Raum außerhalb der Stadtmission, obwohl sie bewußt innerhalb des Projektes stattfindet. Der Gruppenleiter erhält lediglich eine Teilnehmerliste, auf der er die tatsächlich Anwesenden für alle sichtbar abhakt. Ansonsten sind sowohl der Leiter als auch die Teilnehmer zur Verschwiegenheit verpflichtet. Auf diese Weise entsteht der erforderliche Schutzraum. Ein wesentlicher Aspekt einer solchen Arbeit ist der sogenannte Schicksalsrespekt, also eine möglichst uneingeschränkte Bejahung des so Gewordenseins der wohnungslosen Menschen.

Daher ist die Gruppe zunächst einmal ein Raum (im wörtlichen und im übertragenen Sinne), in dem jeder Teilnehmer seinen sicheren Platz hat und so sein darf, wie er ist,

mit all seinen Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten, mit all seiner tiefen Verletztheit und Beziehungsgestörtheit. Hier darf er seine Angst verlieren und Vertrauen zu Menschen fassen, die ihn nicht mit guten Ratschlägen zudecken und bevormunden wollen, sondern die sich auf seine Seite stellen, ihn zu verstehen versuchen und ihn sich nach Maßgabe seiner eigenen Möglichkeiten, Vorstellungen und Wünsche entwickeln lassen. In diesem Raum kann er innerlich zur Ruhe finden und lernen, sich selbst und die anderen wahrzunehmen, anzunehmen und auszuhalten. Die Gruppe findet in einem Kreis (ohne Tische) statt und beginnt mit einem sogenannten Blitzlicht. Der Reihe nach berichten alle Mitglieder von ihrem Erleben in der vergangenen Woche, sie erzählen von Auseinandersetzungen mit Behörden, Enttäuschungen bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, Rückfällen, gesundheitlichen Problemen, Schwierigkeiten innerhalb des Projektes etc. Die weiterführenden Themen der Gruppe ergeben sich aus diesen Beiträgen dann von selbst. Die Suchtmittelabhängigkeit ist mit dem Leben der Wohnungslosen aufs engste verwoben und taucht in den verschiedenen Zusammenhängen ganz selbstverständlich auf. So informieren sich die Teilnehmer gegenseitig über Entgiftungsbehandlungen in den verschiedenen Krankenhäusern, sprechen über die Bedeutung und Wirkung des Alkohols in ihrem Leben, nehmen Rückfälle unter die Lupe, setzen sich mit ihrer Vergangenheit auseinander, thematisieren Kindheitserinnerun-gen, Selbstmordversuche, Hafterfahrungen, Schicksalsschläge etc. Und natürlich sind auch immer wieder aktuelle Befindlichkeiten und Gefühle (z. B. Ärger und Wut über erlebte Behördenwillkür) sowie die Begegnung und das Miteinander in der Gruppe Schwerpunkte der Arbeit. Die Aufgabe des Gruppenleiters ist es dabei, das Sprudeln der inneren Quellen der Teilnehmer – wenn nötig – durch Fragen behutsam anzuregen und das sich aus den verschiedenen Quellen bildende Gruppen-Bächlein vorsichtig zu begrenzen. Überraschend war, daß die Zwangsverpflichtung nicht zu einem Boykott der Teilnehmer führte. Hin und wieder wurde (vor allem zu Beginn) die Unfreiwilligkeit thematisiert, aber das Jammern darüber wurde den Teilnehmern schnell langweilig und sie schwenkten zu anderen Themen über. Ein Mitglied formulierte es einmal so:

„Immer wenn ich freitags zur Gruppe muß, ärgere ich mich darüber. Aber wenn ich dann mal da bin, macht es mir meistens auch Spaß.“

So ähnlich lief es wohl bei vielen Gruppenmitgliedern ab. Denn waren sie erst einmal da, dann brachten sie sich auch mit ihren Problemen ein und nahmen rege am Gruppengeschehen teil. Nur selten gab es Teilnehmer, die ihre Zeit regelrecht absaßen. Um eine Gruppe mit diesem Klientel durchführen zu können, ist es wichtig, sich den Lebenshintergrund der Mitglieder stets vor Augen zu halten. Allen Teilnehmern sind mit hoher Wahrscheinlichkeit in ihrer frühesten Kindheit schwerste Verletzungen ihres menschlichen Lebens- und Selbstgefühls zugefügt worden. Sie waren also Ohnmachts-erlebnissen ausgeliefert, die sie als tödliche Bedrohung erlebten und bis heute mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln abwehren müssen. Nun werden aber die bedrohlichen Ohnmachtserlebnisse im Leben der Wohnungslosen permanent wieder aktiviert, auch durch das Gefühl des Ausgeliefertseins innerhalb des Wohnprojektes (u. a. müssen sie ja die Suchtgruppe besuchen). Um ein destruktives Durchbrechen der Ohnmachtsgefühle, die mit Haß und Zerstörungswut liiert sind, in der Gruppe zu verhindern, ist es von großer Bedeutung, daß sich der Leiter als nicht-bedrohliches Objekt zu erkennen gibt. Dies bedeutet zum Beispiel ganz konkret, daß er für einen pünktlichen Beginn, ein pünktliches Ende und einen geordneten Ablauf sorgt, daß er niemanden auseinandernimmt, auch wenn dies von den Teilnehmern manchmal gewünscht wird, daß er darauf achtet, daß jeder nur über sich selbst spricht und nicht auf andere losgeht, (daß also der Leiter die einzelnen Teilnehmer schützt und ihre Beiträge wertschätzt), und daß jeder in der Gruppe lediglich das mitteilt, was er von sich aus mitteilen will. Dazu gehört auch, daß der Leiter Teilnehmer, die mit einer Alkoholfahne erscheinen, nicht darauf anspricht, denn dies würde – neben der Beschämung und des in diesem Kontext irrwitzigen Postens der Abstinenz-Polizei – auf der Kindheitsebene als tödliche Bedrohung (durch den Leiter) erlebt. Nur wenn der Grad der Alkoholisierung bei einem Teilnehmer derart hoch ist, daß er den Gruppenprozeß permanent stört und andere Teilnehmer beleidigt oder angreift, schreitet der Leiter ein, ruft zur Ordnung und weist – als letzte Maßnahme – das Mitglied aus der Gruppe.

Die Gruppe bestimmt ihre Themen stets selbst. Der Leiter gibt ihr auf diese Weise ein Stück Macht und minimiert die aufsteigende Ohnmachtspanik, die jede sinnvolle Arbeit zunichte machen würde.

Erst die absolute Zuverlässigkeit, Regelmäßigkeit und Berechenbarkeit des vom Leiter hergestellten und verantworteten Settings gibt den Gruppenmitgliedern die Sicherheit und den Halt, in tiefere innere Gefilde vorstoßen zu können. Nachteilig, wenn auch unter den gegebenen Rahmenbedingungen schwerlich zu ändern, ist dabei, daß es sich um eine offene Gruppe handelt. So muß bei jedem Treffen die Vertrauensebene innerhalb der Gruppe aufs neue festgelegt werden. Die Gruppe versteht sich ausdrücklich als eine Arbeit im Vorfeld des etablierten Suchthilfesystems. Ziel ist es nicht, ein Parallelangebot aufzubauen, sondern die Teilnehmer dazu zu befähigen, eines Tages die Hilfsangebote des bereits bestehenden Systems für sich und ihre Entwicklung nutzen zu können. Sobald ein Teilnehmer sich an eine Selbsthilfegruppe oder Beratungsstelle fest angeschlossen hat, hat er das anvisierte Ziel der Gruppe erreicht und macht seinen Platz für ein neues Mitglied frei.